Die EU finanziert die Entwicklung von Überwachungs- und Kontrolltechnologien mit 1,4 Milliarden Euro, darunter das berüchtigte Projekt INDECT („Intelligentes Informationssystem zur Unterstützung von Überwachung, Suche und Entdeckung für die Sicherheit von Bürgern in städtischer Umgebung“). Mit EU-Mitteln entwickelt werden selbst Technologien, deren Einsatz illegal wäre. In welche Projekte Gelder fließen, entscheiden Beamte und Industrievertreter im Wesentlichen alleine.
2011 soll das EU-Parlament zum achten Mal Milliarden für diese Art von „Sicherheitsforschung“ abnicken. Doch diesmal schlägt ein Bericht des Europäischen Parlaments vom 15.10.2010 Alarm. Da der Bericht nur in englischer Sprache verfügbar ist, hier eine Übersetzung der aufschlussreichen Ergebnisse:
Was den öffentlich-privaten Dialog angeht: Hinter EU-Sicherheitsforschung und ihrer Vorbereitung steht hauptsächlich das Anliegen, Vertreter der Verteidigungs- und Innenministerien der EU-Staaten und Vertreter großer Verteidigungs- und Sicherheitsunternehmen zusammenzubringen. Dabei sind Vertreter der Zivilgesellschaft und Parlamentarier sowie Einrichtungen und Organisationen zum Schutz bürgerlicher Freiheiten und der Grundrechte, einschließlich Datenschutzbehörden und Grundrechtseinrichtungen, größtenteils außen vor gelassen worden. Ergebnis dieses Verfahrens ist ein eingeschränkter Dialog, der Sicherheitsforschung aus der Perspektive von Sicherheitsbehörden und der Industrie behandelt, ohne Anforderungen zu berücksichtigen, die sich aus dem EU-Freiheitsraum ergeben.
Was die Sicherheitsforschung unter dem 7. Rahmenprogramm angeht: Ein Überblick über laufende Sicherheitsforschungsprojekte unter dem 7. Rahmenprogramm zeigt eine ungleichmäßige Verteilung der Finanzmittel, die sich auf eine kleine Zahl teilnehmender Staaten und eine kleine Zahl von Organisationen konzentriert, hauptsächlich große Verteidigungs- und Sicherheitsunternehmen und Einrichtungen für angewandte Forschung. Außerdem ist ein großer Teil [40,1%] dieser Projekte auf die Entwicklung von Überwachungstechnologien angelegt, zu Lasten einer umfassenderen Berücksichtigung der Auswirkungen solcher Technologien auf Bürger und andere von EU-Sicherheitspolitik Betroffene.
Was die zukünftigen Entwicklungen im Bereich der EU-Sicherheitsforschung angeht: Pläne zur Weiterentwicklung der EU-Sicherheitsforschung, einschließlich der von kurzem von ESRIF vorgeschlagenen Europäischen Forschungs- und Innovationsagenda, wirken den oben genannten Entwicklungen nicht grundlegend entgegen. Zwar zeigen die Vorschläge ein wachsendes Bewusstseit für Fragen der Grundfreiheiten und Grundrechte. Ihr Ausgangspunkt sind aber weiterhin Interessen der Verteidigungs- und Sicherheitsindustrie sowie nationaler und europäischer Sicherheitsbehörden.
Wichtigste Empfehlungen:
Auf kurze Sicht sollte hauptsächlich eine eingehende Evaluierung EU-geförderter Sicherheitsforschung stattfinden. Wir schlagen vier Möglichkeiten vor: […]
Die wichtigste mittelfristige Empfehlung – vor dem Hintergrund, dass das erste Diskussionspapier der EU-Kommission über die Zukunft des 8. Rahmenprogramms für Anfang 2011 erwartet wird – geht darin, dass das Europäische Parlament darauf bestehen sollte, dass
1. EU-Sicherheitsforschung unter der Verantwortung der Generaldirektion für Forschung und nicht der Generaldirektion für Wirtschaft durchgeführt wird,
2. ein bestimmter Teil zukünftiger Mittel der Sicherheitsforschung im Bereich der Grundfreiheiten und Grundrechte vorbehalten werden sollte (10-15%),
3. die Entwicklung eines speziellen Forschungsfeldes über Grundfreiheiten und Grundrechte, auch im Bereich der EU-Maßnahmen zum Schutz der inneren und äußeren Sicherheit, für das 8. Rahmenprogramm in Betracht gezogen wird.
[Seite 34] Es sollte sichergestellt werden, dass Forschung fachbereichsübergreifend durchgeführt wird, indem man verlangt, dass alle Vorhaben zur Entwicklung von Technologien eine rechtliche, politische und soziale Komponente einschließen. Falls das Projekt die Verwendung oder die Entwicklung datenintensiver Technologien vorsieht (z.B. data mining, data fusion, Erstellung von Verhaltensprofilen), dann sollte die Beteiligung von Experten für Privatsphäre und Datenschutz, besonders von Praktikern aus Datenschutzbehörden, vorgeschrieben sein.
Bewertung
Auch wenn der Parlamentsbericht für offizielle Verhältnisse sehr progressiv ist, gehen mir die Schlussfolgerungen nicht weit genug. Ich habe schon 2009 gefordert:
- Die europäische Sicherheitsforschung aus Steuergeldern wollen wir demokratisieren und an den Bedürfnissen und Rechten der Bürgerinnen und Bürger ausrichten. In beratenden Gremien wie dem Europäischen Forum für Sicherheitsforschung und Innovation (ESRIF) sollen künftig neben Verwaltungs- und Industrievertretern in gleicher Zahl auch Volksvertreter sämtlicher Fraktionen, Kriminologen, Opferverbände und Nichtregierungsorganisationen zum Schutz der Freiheitsrechte und Privatsphäre vertreten sein.
- Eine Entscheidung über die Ausschreibung eines Projekts soll erst getroffen werden, wenn eine öffentliche Untersuchung der Europäischen Grundrechtsagentur über die Auswirkungen des jeweiligen Forschungsziels auf unsere Grundrechte (impact assessment) vorliegt.
- Die Entwicklung von Technologien zur verstärkten Überwachung, Erfassung und Kontrolle von Bürgerinnen und Bürgern lehnen wir ab.
- Stattdessen muss die Sicherheitsforschung auf sämtliche Optionen zur Kriminal- und Unglücksverhütung erstreckt werden und eine unabhängige Untersuchung von Wirksamkeit, Kosten, schädlichen Nebenwirkungen und Alternativen zu den einzelnen Vorschlägen zum Gegenstand haben.
- Weil auch die gefühlte Sicherheit eine wichtige Voraussetzung für unser Wohlbefinden ist, wollen wir zudem erforschen lassen, wie das öffentliche Sicherheitsbewusstsein gestärkt und wie verzerrten Einschätzungen und Darstellungen der Sicherheitslage entgegen gewirkt werden kann.
Ich bin gespannt, ob das EU-Parlament Fortschritte durchsetzen wird, damit Big-Brother-Fantasien wie INDECT nie wieder aus öffentlichen Mitteln finanziert werden.
Ergänzung vom 08.07.2012:
Die Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder fordern in einer Entschließung vom 21./22. März 2012:
Bei Projekten, bei denen öffentliche Stellen des Bundes und der Länder beteiligt sind, sollten jeweils die zuständigen Datenschutzbehörden frühzeitig über das Projektvorhaben informiert und ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt werden.
Die Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder appelliert an alle öffentlichen Stellen von Bund und Ländern, aber auch an die der Europäischen Union, die solche Projekte in Auftrag geben oder Fördermittel hierfür zur Verfügung stellen, bereits bei der Ausschreibung oder Prüfung der Förderfähigkeit derartiger Vorhaben rechtliche und technisch-organisatorische Fragen des Datenschutzes in ihre Entscheidung mit einzubeziehen. Nur so kann verhindert werden, dass Vorhaben öffentlich gefördert werden, die gegen Datenschutzvorschriften verstoßen.