Pressemitteilung vom 12.01.2011:
Nur Tage, nachdem der hessische Innenminister Boris Rhein (CDU) die Wiederaufnahme des umstrittenen Massenabgleichs von Fahrzeugkennzeichen auf hessischen Straßen bekannt gab,[1] bestätigt das Bundesverfassungsgericht mit Schreiben vom 10.01.2011 den Eingang einer Verfassungsbeschwerde gegen das entsprechende hessische Landesgesetz (Az. 1 BvR 3187/10). Beschwerdeführer ist ein hessischer Autofahrer, aus dessen Sicht das Gesetz unverhältnismäßig weit in die Grundrechte von Millionen unbescholtener Autofahrer eingreift.
Der heute im Internet veröffentlichten Beschwerdeschrift[2] zufolge ermögliche das Gesetz einen „dauerhaften, systematischen und großflächigen Abgleich aller Kraftfahrzeuge an einer unbestimmten Vielzahl von Orten und Straßen“ in Hessen. Selbst zum Schutz beliebiger „privater Rechte“ werde ein Kfz-Massenabgleich zugelassen. Das hessische Gesetz umgehe die Strafprozessordnung, welche Kontrollstellen etwa zum Stellen von Autodieben nur in sehr engen Grenzen zulasse.
Der Beschwerdeführer warnt, die eingesetzte Technik weise Fehlerquoten von 5-40% auf, weshalb es mindestens stündlich zu Falschmeldungen von nicht gesuchten Fahrzeugen komme. Das Gesetz erlaube überdies die verdeckte Erstellung von Bewegungsprofilen. Dies könne Menschen von der Teilnahme an Demonstrationen abschrecken. Während der Proteste gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm 2007 etwa sei im Umfeld ein Kfz-Massenabgleich vorgenommen worden. Der Beschwerdeführer befürchtet, ein routinemäßiger Abgleich beliebiger Kfz-Kennzeichen ebne den Weg auch für eine zukünftige elektronische Gesichtskontrolle beliebiger Bürger.
Neben dem Kfz-Massenabgleich richtet sich die Verfassungsbeschwerde auch gegen eine Ermächtigung hessischer Polizisten zur Auslieferung polizeilicher Daten an das europäische Ausland. Der Beschwerdeführer moniert, dass hiervon hochsensible Daten etwa aus Wohnungsüberwachungen oder Telefonüberwachungen betroffen sein können, ohne dass die Weiterverwendung im Ausland ausreichenden Schutzvorkehrungen unterliege. Beispielsweise könnte es dort zur Weiterreichung der Daten an die USA oder China kommen, wo unbegründete Überwachung, Festnahmen oder sogar die Verhängung der Todesstrafe die Folge sein könnten.
Hintergrund:
Hessen gleicht Kfz-Kennzeichen nicht zum ersten Mal automatisiert ab. Bereits von Januar bis April 2007 sind in Hessen nach Angaben der Staatskanzlei[3] 360.000 Kfz-Kennzeichen abgeglichen worden. Die Zahl der Treffer belief sich auf 123, was einer Trefferquote von 0,03% entspricht. Unter den Treffern befanden sich zu 67% säumige Versicherungszahler, zu 19% Fahrzeuge mit verlorenem oder gestohlenem Kennzeichen und zu 14% Personen, die zur Beobachtung oder Festnahme ausgeschrieben waren. Eine Festnahme erfolgte allerdings nicht. Auch in anderen Bundesländern sind die Ergebnisse derartiger Kfz-Massenabgleiche mager geblieben.
2008 erklärte das Bundesverfassungsgericht das hessische und ein schleswig-holsteinisches Gesetz zum Kfz-Massenabgleich für verfassungswidrig und nichtig. Der schleswig-holsteinische Innenminister Lothar Hay gab daraufhin bekannt, er verzichte auf eine Neuregelung, denn das Kfz-Scanning binde Personal, das an anderen Stellen sinnvoller für operative Polizeiarbeit eingesetzt werden könne. „Das Kfz-Scanning hat sich als ungeeignetes Instrument zur Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit erwiesen“, so Hay. Bremen, Saarland und Rheinland- Pfalz haben entsprechende Regelungen seither ersatzlos gestrichen. Gegen verbleibende Gesetze in Baden-Württemberg, Bayern und Niedersachsen sind Verfassungsbeschwerden bzw. Klagen anhängig. Der Landtag von Mecklenburg- Vorpommern berät zurzeit über eine entsprechende Regelung.
Für Hessen sah der von Andrea Ypsilanti ausgehandelte rot-grüne Koalitionsvertrag aus dem Jahr 2008 den Verzicht auf die umstrittene Maßnahme vor, während die Koalition von CDU und FDP sie Ende 2009 doch wieder einführte. Zur Begründung erklärte der damalige Innenminister Volker Bouffier (CDU): „Unser Auftrag ist es, gestohlene Autos zu suchen und sie nach Möglichkeit zu finden.“ Die Zahl der gestohlenen Fahrzeuge ist allerdings ohnehin stark rückläufig: Während 1993 noch etwa 230.000 Diebstähle von Kraftfahrzeugen polizeilich registriert wurden, waren es 2009 nur noch rund 40.000 Kfz-Diebstähle, was einem Rückgang um 83% entspricht.
Siehe auch (aktualisiert am 14.01.2011):
- Video von RTL aktuell: Interview mit Dragan Pavlovic, der 2005 die erste Verfassungsbeschwerde gegen den Massenabgleich von Kfz-Kennzeichen in Hessen eingereicht hatte (11.01.2011, 2 min.)
- SPD: Kritik der SPD-Fraktion (10.01.2011)
- Julis: Kritik der Jungen Liberalen (11.01.2011)
- Piratenpartei: Kritik der Piratenpartei (12.01.2011)
- Audio von hr info: Polizeirechtler hält Gesetz teils für verfassungswidrig (12.01.2011, 3 min.)
- Video von RTL aktuell: Klage gegen Kennzeichen-Scanner (12.01.2011, 0.30 min.)
- Die Linke: Kritik der Linken (13.01.2011)
- Grüne: Kritik der Grünen (13.01.2011)
- SPD: SPD-Fraktion kündigt eigene Verfassungsklage an (13.01.2011)
- fuldainfo: Stand der Diskussion um Kennzeichen-Scanner (14.01.2011)