Im vergangenen Jahr sorgte ein Urteil des Oberlandesgerichts Frankfurt (Az. 13 U 105/07) für Aufruhr, demzufolge die Deutsche Telekom berechtigt sei, eine Woche lang auf Vorrat zu speichern, unter welcher IP-Adresse Internetnutzer surfen. Diese Vorratsspeicherungspraxis der Telekom ermöglicht in vielen Fällen die Rückverfolgung der Internetnutzung und führt immer wieder zu unberechtigten Ermittlungen und Abmahnungen. Mithilfe der Daten identifiziert die Telekom jeden Tag tausende von Internetnutzern gegenüber Abmahnanwälten und Strafverfolgern.
Der Bundesgerichtshof hat das Urteil des Oberlandesgerichts Frankfurt nun aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das OLG Frankfurt zurückzuverwiesen (Az. III ZR 146/10). Endgültig geklärt hat der Bundesgerichtshof die (Un-)Zulässigkeit der Vorratsspeicherung von IP-Adressen nicht, weil der Sachverhalt noch näherer Aufklärung bedürfe. Die Urteilsbegründung des Bundesgerichtshofs liegt noch nicht vor.
Erste Schlüsse
Aus der Aufhebung und Zurückverweisung dürfte sich auch ohne Kenntnis der Begründung ergeben, dass der Bundesgerichtshof die „freiwillige Vorratsdatenspeicherung“ der Telekom unter bestimmten Voraussetzungen für unzulässig hält. Das erste Argument des aufgehobenen Urteils des OLG Frankfurt lautete, die Telekom benötige Internetadressen zur Abrechnung. Da die Rechnungssumme aber in keinem Tarif von der zugewiesenen IP-Adresse abhängt, wird dieses Argument nicht haltbar sein. Das zweite Argument des aufgehobenen Urteils lautete, die Telekom benötige Internetadressen, um Störungen und Fehler an ihren Telekommunikationsanlagen zu erkennen, einzugrenzen und zu beseitigen. Dies hatte der Kläger durch Sachverständigengutachten widerlegen lassen wollen. Das Oberlandesgericht hatte sich aber geweigert, ein Gutachten einzuholen. Möglicherweise verlangt der Bundesgerichtshof von dem Oberlandesgericht nun, dies nachzuholen.
Meiner Überzeugung nach würde ein Sachverständigengutachten ergeben, dass eine permanente und flächendeckende Vorratsdatenspeicherung zur Störungserkennung nicht erforderlich, jedenfalls aber ganz unverhältnismäßig ist. Andere Internet-Zugangsanbieter wie Arcor oder Vodafone belegen, dass sich Internetzugänge problemlos auch ohne Vorratsdatenspeicherung anbieten lassen.
Dementsprechend haben die 25. Zivilkammer des Landgerichts Darmstadt (Az. 25 S 118/2005) und das Oberlandesgericht Karlsruhe (Az. 4 U 86/07) bereits rechtskräftig entschieden, dass Internet-Zugangsanbietern eine Vorratsprotokollierung der von ihren Kunden temporär genutzten Internetadressen untersagt ist. Es ist zu erwarten, dass das vom Bundesgerichtshof und OLG Frankfurt nun behandelte Verfahren letztlich zum selben Ergebnis führen wird.
Vorratsdatenspeicherung
Gleichzeitig besteht das Risiko, dass das Urteil in der aktuellen politischen Diskussion um Forderungen nach Wiedereinführung einer Vorratsdatenspeicherung missbraucht werden wird für die Behauptung, ohne wenigstens 7-tägige Vorratsspeicherung von IP-Adressen werde das Internet zu einem „rechtsfreien Raum“. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall:
- Internetdelikte sind auch ohne Vorratsdatenspeicherung eher leichter nachverfolgbar als vergleichbare Delikte außerhalb des Internet. Ohne Internet-Vorratsdatenspeicherung wurden 2008 fast 80% aller bekannt gewordenen Internetdelikte aufgeklärt, von den sonstigen Straftaten nur 55%. Übrigens werden nur 3% aller bekannt gewordenen Straftaten im Internet begangen.
- Auch ohne Vorratsspeicherung von Internetadressen bleiben gezielte Ermittlungen in den weitaus meisten Fällen möglich, etwa die Identifizierung von Tatverdächtigen noch während der bestehenden Internetverbindung („Quick Freeze“, von der Unterhaltungsindustrie gegen Tauschbörsennutzer erfolgreich angewandt), Fangschaltungen für den Fall, dass sich der Tatverdächtige erneut anmeldet (vom BKA bereits erfolgreich angewandt) oder die Verfolgung von Spuren unbarer Geldtransaktionen.
- In befreundeten Staaten wie Österreich, Schweden, Norwegen oder Kanada gilt schon lange ein striktes Verbot der Vorratsspeicherung von IP-Adressen über das Verbindungsende hinaus (siehe Urteil des österreichischen Obersten Gerichtshofs vom 14.7.2009, Az. 4 Ob 41/09x), ohne dass das Internet dort deswegen ein „rechtsfreier Raum“ wäre.
- Schon der Blick auf unser tägliches Leben zeigt, dass die meisten (ca. 55%) dem Staat bekannt gewordenen Straftaten aufgeklärt werden können, obwohl niemand mitschreibt, mit wem wir geredet, wo wir uns aufgehalten oder worüber wir informiert haben.
- Eine Internet-Vorratsdatenspeicherung lässt sich ohnehin auf vielfältige Weise umgehen (z.B. WLAN, Internetcafe, Anonymisierungsdienst), wovon gerade professionelle Straftäter routinemäßig Gebrauch machen.
Wer sich wirklich wirksam gegen Internetdelikte einsetzen wollte, müsste sich um die echten Probleme in diesem Bereich kümmern: Ausbildung, Ausstattung, Prävention. Dies würde allerdings mehr Nachdenken und Einsatz erfordern als plakativ auf einer für den Staat kosten- und mühelosen Totalprotokollierung zu insistieren.
Aus vier Gründen ist das geltende Protokollierungsverbot für unsere freiheitliche Gesellschaft äußerst wichtig:
- Zum Schutz vor der gesteigerten Gefahr, unschuldig einer Straftat verdächtigt zu werden oder Abmahnungen zu erhalten.
- Zum Schutz vor dem gesteigerten Risiko von Datenpannen und Missbrauch der angehäuften Daten.
- Zur Gewährleistung der unbefangenen Inanspruchnahme des Internet in Notlagen und sensiblen Situationen ohne Furcht vor Bekanntwerden privater und intimer Probleme.
- Aufgrund der hohen Bedeutung von Anonymität für unsere Gesellschaft insgesamt.
An anderer Stelle habe ich diese Punkte ausführlich erläutert.
Solange sich diverse Internet-Zugangsanbieter noch nicht an das geltende Protokollierungsverbot (§ 96 TKG) halten, kann man nur empfehlen, die Speicherpraxis des eigenen Internet-Zugangsanbieters in Erfahrung zu bringen und gegebenenfalls den Anbieter zu wechseln und/oder einen Anonymisierungsdienst nutzen – und natürlich bei dem Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung mitzumachen.
Weitere Informationen:
- Kritik: OLG Frankfurt zur Vorratsspeicherung von IP-Adressen (3.7.2010)
- Staatsauskünfte: Telekom bricht erneut Kommunikationsgeheimnis (2.9.2008)
- Zehn Argumente für sofortige Löschung von Verbindungsdaten (11.3.2007)
- 7-tägige Speicherung von IP-Adressen zulässig? [ergänzt am 15.11.2010] (2.3.2007)
Ergänzung vom 19.01.2011:
Das Urteil des Bundesgerichtshofs ist am 13.01.2011 verkündet worden.